Wer hat den Grösseren?
Es begann wohl mit der Vertreibung aus dem Paradies. Plötzlich wurde es ihnen gewahr: Sie waren Mann und Frau. Natürlich nicht mit der Frucht des «Ewigen-Lebens-Baumes» beglückt – nur mit der des «Erkenntnis-Baums». Das «Ewige Leben» hätte wohl auch die «Erkenntnis- und Lern-Mischung» unnütz gemacht. Ad absurdum geführt.
Erkenntnis: Sie waren verletzlich. Sie mussten um ihr Überleben kämpfen. Um den Fortbestand. Denn das Leben war endlich. Und die Umwelt strotzte vor Gefahren.
Wenn ein Embryo sich entwickelt, ist es zunächst weiblich. Erst später verändert sich der Körper entsprechend zur männlichen Spezies. Auch die männlichen Spermien sind anfälliger. Sie müssen bereits vor der Befruchtung die schnellsten sein. Und im Durchschnitt sterben mehr männliche Föten als weibliche – vor der Geburt. «Mann» sein, ist von Anfang an auf Kampf ausgelegt, oder?
Ich spreche mit meinem mir sehr nahestehenden Freund Erney, der zu den «sich sehr bewussten» Spezies Mann gehört. Er reflektiert und kann erklären. Er erzählt mir, dass seine Freundin ihm einmal erzählte, dass sie von einem Kollegen aufmerksam gemacht wurde, dass ein andere Kollege auf sie stehen würde. Sie hätte es nicht mitbekommen. «Das kann überhaupt nicht sein. Natürlich hat sie es mitbekommen. Wie könnte man das nicht bemerken???!» Genau: «man». Ich musste ihm leider bestätigen, dass auch mir das öfters vorgeworfen wurde. «Hast du nicht gesehen, wie dich der Typ dort drüben angeschmachtet hat?» «Nein. Wirklich nicht.» Denn, dass andere mich als Frau attraktiv fanden, war für mich überhaupt nicht wichtig. Ich badete auch nicht darin. Ich ignorierte es schlichtweg. Hatte ich doch keinerlei Bedarf an einem oder diesem «Mann». Anders, mit männlichen Freunden. Diese durften in meinem Leben immer sein. Sie hatten nie die Rolle eines Sexualpartners. Aber wahrscheinlich basieren diese Freundschaften trotz allem auf einer geschlechterspezifischen Anziehung.
Wir nehmen unterschiedlich wahr. Der Mann sieht in jedem anderen Mann einen potentiellen Konkurrenten. Er beobachtet ständig die Konkurrenz. Ich hingegen empfinde es als Beleidigung, dass der Mann an meiner Seite mir nicht vertraut. Oder mir nicht zugesteht, dass ich selbst entscheiden kann, wen ich nahe an mich ranlasse. Und wenn dieser Platz bereits besetzt ist: Warum sollte ich überhaupt einen anderen Mann an mich heranlassen? «Mein» Mann vertraut mir nicht. Traut meinen Gefühlen für ihn nicht. Oder???
Nun, leider sind Männer und Frauen genetisch gegensätzlich gepolt. Wir nehmen unterschiedlich wahr.
Und natürlich projizieren wir unsere Wahrheit auf den anderen. Das ist menschlich. Das ist normal. Ein Mann geht im Verhältnis auch mehr fremd, als eine Frau. Wie sollte er also einer Frau aus seiner Sicht trauen? Die unterschiedliche Wahrnehmung ist einer der Gründe, warum es den Spruch gibt, dass die Männer vom Mars kommen und die Frauen von der Venus. Können wir uns überhaupt verstehen?
Ich habe schon viele Diskussionen in meinem Leben geführt. Ich – als Frau – wollte es verstehen. Warum ist das Zusammenleben so kompliziert? Warum verstehen wir uns nicht? Warum ist die Emanzipation der Frau so dramatisch für die männliche Spezies? Was ich schnell erkannt hatte, war, dass sie ihrer Rolle enthoben sind, wenn die Frau eigenständig und selbstverantwortlich agieren kann. Manche Männer wurden hilflos ohne ihre zugedachte Rolle und verweigerten von da an oft den Part, der ihnen dann noch zugestanden wurde. In einer Familie. In einer Beziehung. Sie sollten doch beschützen, versorgen, verteidigen. Doch plötzlich sollten sie nur noch ein Gesellschafter sein? Ein gleichberechtigter Partner? Immer noch Mit-Versorger, aber bitteschön mit Gleichberechtigung? Immer noch Beschützer, aber bitte nur, wenn es noch angebracht ist? Ist es überhaupt noch angebracht? Das alles passt irgendwie nicht. Sie wurden ihrer Machtstellung enthoben. Dann doch lieber gar nicht.
Ich selbst bin ohne bewusste Rollenerziehung grossgeworden.
Ich hatte keinen Bruder, um zu vergleichen, welche Rolle ihm angedacht wurde. Ich wurde nicht nur im «Nähen, Stricken, Kochen» unterrichtet, sondern auch in Mathematik, wo ich mein Steckenpferd fand. Meine Erziehung war weitestgehend geschlechterneutral. Am liebsten kletterte ich auf Bäumen herum. Ich war gut im Sport, besonders im 100-Meter-Lauf, oder ich spielte mit anderen Räuber und Gendarm, Cowboy und Indianer, Fangen. Ich spielte zwar auch mit Puppen, aber eigentlich ging es da mehr um das Nachspielen von Szenarien oder schlichtweg um das Anfertigen von Kleidern. Liess man mich also in meiner Rollendefinition selbst entscheiden, tendierte ich mehr zu der «männlichen». Kam das nun daher, dass man in unserem Familienzweig bei den Frauen übermässig viel Testosteron feststellte? Ich hatte von jeher mehr Haare an den Beinen als andere Mädchen. Meine Schwestern auch. Meine Cousinen… Wow. War unsere Familie prädestiniert, mit der alten Frauenrolle aufzuräumen? Unsere «Männer», Brüder, Onkel waren allesamt schwach. Hatten wir sie über Generationen dazu gemacht? Oder wurden wir «dazu gemacht», weil über Generationen hinweg viele Männer ihrer Rolle des Versorgers und Beschützers nicht nachgekommen waren?
Ich war also von klein auf emanzipiert ohne dass ich wusste, was das war. Ich gehöre zur 60er Jahre Generation.
Auch in meinem späteren Leben übernahm ich automatisch die Männerrolle. Wirklich «Frau» sein, konnte ich nie. Ich war der Ernährer meiner kleinen Familie. Ich machte Karriere. Und immer dann, wenn ich Frau sein wollte, in einer Beziehung, nach der Geburt meiner Kinder, wurde ich enttäuscht. Kein Mann war in der Lage, uns zu versorgen und zu beschützen und… mich vertrauen zu lassen. Nun, ich war auch nicht darauf vorbereitet, jemandem mein Leben anzuvertrauen. Abhängig zu sein. Das habe ich in meiner Kindheit schon gelernt. Ich hatte gelernt NICHT zu vertrauen. Der einzige Mensch, der mir emotionale Sicherheit gegeben hatte, war gestorben, als ich 7 war. Ergo, war ich im späteren Leben auch in der Lage, beide Rollen zu übernehmen. Unabhängig und frei. Mein Fokus war, eigenes Geld verdienen um jeden Preis. Raus aus einem Umfeld ohne Liebe. Trotzdem hatte ich Beziehungen. Trotzdem hatte ich den Traum, endlich anzukommen und ein Zuhause zu finden. Eine richtige Familie. War das die Biologie? Die genetische Programmierung? Ich scheiterte jedes Mal. Ich suchte mir wohl aber auch instinktiv Männer, die genau nicht die Rolle des Versorgers übernehmen konnten. Denn das hätte womöglich bedeutet, dass ich meine sicherheitsgebende Freiheit aufgeben könnte. Und damit meinen Schutz. Niemals mehr schutzlos sein. Vor dem fehlenden Kit «Liebe». Auch nicht mit Kindern. Ich war stark. Ich konnte beide Rollen übernehmen.
Ich verstand nicht, dass Männer IMMER einen Schwanzvergleich machen müssen.
Und trotzdem suchte ich mir auch «Machos», die wenigstens «Beschützer» sein könnten. Auch das unterbewusst. Wenn diese aber ihre Rolle übernahmen und mich EIFERSÜCHTIG bewachten, fühlte ich mich meiner Freiheit beraubt. Ich verstand nicht, dass das zusammengehört. Ich verstand nicht, dass Männer IMMER einen Schwanzvergleich machen müssen. War es nicht Bestätigung genug, dass ICH mit ihm zusammen war?
Warum wollen Männer Jungfrauen?
Erney erklärte mir seine Sichtweise ausführlich. Auch, warum Männer am liebsten Jungfrauen hätten. Wenn sie eine Frau haben, die keine Vorgeschichte mit anderen Männern hatte, müssten sie nicht in Konkurrenz zu «Verflossenen» treten. Kein Vergleich = automatisch der Grösste. Und genau deswegen sehen Männer auch, dass andere Männer «ihre» Frau wollen, die Frau sieht es aber womöglich nicht. Sie spüren es geradezu. Sie haben womöglich auch kein Verständnis für einen Mann in der «Friend-Zone» der Frau. Denn auch wenn die Motivation der Frau eine andere ist, um einen Mann nur als Freund zu sehen: Der Mann würde womöglich niemals Nein sagen, wenn die Frau diesen platonischen Freund zum «richtigen» machen würde. Oder sich hilfesuchend an ihn wendet, wenn es Probleme mit dem «eigenen» Mann gibt. Es gibt wohl nie eine Freundschaft zwischen Mann und Frau, die nicht wenigstens ein bisschen von der geschlechtsspezifischen Anziehung in sich birgt.
Ich erinnerte mich an eine solche Situation, als ein Mann mir sagte: «Wenn ich er wäre, dann würde ich dich auf Händen tragen und nicht so behandeln, wie er es tut.» Konkurrenz ausgestochen. Touché.
Ich war der Ansicht, wir könnten heutzutage in der Liebe über den Dingen stehen. Dass es einfach nur um Vertrauen zu dem jeweiligen Individuum geht. Um Selbstvertrauen. Selbstliebe. Magie. Was aber, wenn die ursprüngliche genetische Programmierung einen so grossen Einfluss auf unser Handeln hat, dass sie immer unsere Bestrebungen nach Einmaligkeit, Besonderheit dieser Mann-Frau-Beziehung und dieser seelischen Verbindung boykottiert?
Dass wir trotz aller Bestrebungen dem Fluch unserer Vertreibung aus dem Paradies unterliegen?
Wer hat den Grösseren?
Es ist auch eine Frage der Macht. Machtbestrebungen sind weit eher Männern vorbehalten. Kriege sind männergemacht. Und gerade früher waren für viele Kriege und Auseinandersetzungen der Auslöser eine Frau, die weggenommen wurde oder unerreichbar war. Geht es also immer nur darum?
Auch die heutige Machtdemonstration in der (Welt-)Politik und bei Kriegen: Die Aggressoren sind Männer.
«Wer hat den Grösseren?», dominiert immer noch unsere Welt. Nicht unbedingt in Bezug auf Frauen. Aber in Bezug auf Machtausübung über andere.
Die genetisch vorbestimmte Rolle des Beschützers und Verteidigers ist wohl ausgeartet. Denn viele Frauen brauchen sie nicht mehr.
Ist womöglich unsere «Emanzipation» an allem schuld? Wenn der Mann keine Rolle mehr spielt, muss er sich eine andere Machtposition suchen?
Zurück von der Vogel- zur Froschperspektive: Viele Männer haben auch in der Vergangenheit keine Möglichkeit gehabt, zu beweisen, dass sie ihre Männerrolle adäquat ausüben können. Sie wurden aussortiert: Von potentiellen Schwiegereltern, von Ritterspielen: Nur der Stärkste gewann die Gunst einer Frau. Nur der, der versorgen konnte, durfte heiraten. Was in der arabischen Welt immer noch Usus ist. Nur dieser hat das Recht, seine Gene weiterzugeben. Und um ganz sicher zu sein: Man sperrt die Frau anschliessend ein und möchte zu Beginn eine Jungfrau.
Des Mannes Streben ist die Verbreitung seiner Samen. Die der Frau, die besten Samen auszuwählen.
Was ist/war mit den anderen Männern? Den «Aussortierten»? Entweder sie geben auf, oder streben noch mehr nach dem «Ich habe auch einen Grossen». Wenn schon nicht Versorger, dann wenigstens Held. Auch Helden bekommen die Chance, ihre Gene weiterzugeben. Wenn auch nicht bei einer einzigen Frau (die sie ja gar nicht versorgen konnten), so denn doch oft bei vielen. Früher wurden daraus die bekannten Kuckucks-Kinder. Oder Frauen lebten danach entehrt am Rande der Gesellschaft. Des Mannes Streben ist die Verbreitung seiner Samen. Die der Frau, die besten Samen auszuwählen. «Helden» haben ihre Qualität bewiesen. Und die, die versorgen können, auch.